Einbeziehung der Bevölkerung in das Katastrophenmanagement

Quelle: .SIAK Journal - 2013 - Ausgabe 2

 

In Übereinstimmung mit den Erkenntnissen der Autoren des Grünbuchs wurde anhand des Szenarios Stromausfall in Berlin deutlich, dass es in erster Linie die einsetzenden zahlreichen Kaskadeneffekte sind, die bei einem flächendeckenden Stromausfalls innerhalb kurzer Zeit zu katastrophalen Folgen für die Bevölkerung führen.

Wenden wir uns den Ergebnissen der Untersuchung der psychosozialen Folgen für die Bevölkerung zu: Eine wichtige Erkenntnis lautet, dass es nicht möglich ist, von „den“ Folgen des Stromausfalls für „die“ Bevölkerung zu sprechen. Stromausfall trifft den Einzelnen in Abhängigkeit von seiner Verletzbarkeit (Vulnerabilität) und von den ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen in einem sehr unterschiedlichen Maße. Die Verletzbarkeit ist beispielsweise bei kranken Menschen, die zum Überleben auf fremde Hilfe oder Mittel wie strombetriebene Geräte etc. angewiesen sind, stark erhöht. Dies ist etwa bei Dialysepatienten oder von Beatmungsgeräten abhängigen Personen der Fall. Aber auch Familien mit kleinen Kindern, drogenabhängige Menschen und ausländische Touristen weisen eine höhere Vulnerabilität auf, als z.B. junge Studierende.Um die psychosozialen Folgen des Stromausfalls zu erfassen, müssen des Weiteren die Ressourcen berücksichtigt werden, auf welche die Menschen zurückgreifen können, um die Situation zu bewältigen. Zu den Ressourcen zählen sowohl materielle Gegebenheiten, wie z.B. Vorräte an Lebensmitteln oder die Verfügbarkeit von Wasser, als auch immaterielle Umstände, wie persönliche und soziale Kompetenzen oder die Einbettung des Einzelnen in sein soziales Umfeld, d.h. in ein Netzwerk von Freunden und Bekannten, die ggf. Unterstützung und Hilfe leisten können. Und diese materiellen und immateriellen Ressourcen sind in wirtschaftlich, sozial, strukturell und auch baulich heterogenen Städten wie Berlin sehr ungleich verteilt. Beispielsweise können die Menschen in Hochhaussiedlungen, die oberhalb der dritten Etage wohnen, bei Stromausfall nicht mehr mit fließendem Wasser versorgt werden. Bewohner von Reihenhaussiedlungen dürften hingegen weiterhin fließendes Wasser zur Verfügung haben und damit ihre Toiletten benutzen können. Auch dürften in Stadtgebieten mit hoher Bewohnerdichte, kleinen Wohnungen und schwacher Einkommens­ und Sozialstruktur weniger Lebensmittelvorräte in den Wohnungen gelagert sein, als in wohlhabenden Vororten. Anderseits kann aber gerade der soziale Zusammenhalt in ökonomisch belasteten Quartieren der Stadt besser sein, als in Quartieren, in denen die Menschen über ein überdurchschnittliches Einkommen verfügen. Diese nur kurz skizzierten Überlegungen verdeutlichen die Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung des Hilfebedarfs der Bevölkerung.

Die Reaktion der Menschen in Krisen hängt aus der Sicht dieser Praktiker ganz entscheidend davon ab, wie gut sie über die Situation informiert werden und wie mit ihnen kommuniziert wird. Negative Reaktionen, wie z.B. starke Emotionen und damit einhergehendes resignatives oder aggressives Verhalten, werden vor allem dann für wahrscheinlich gehalten, wenn die betroffenen Personen nicht wissen, was auf sie zukommt, wenn sie sich hilflos und orientierungslos fühlen.

Halten wir an dieser Stelle fest: Der Hilfebedarf wird bei lang anhaltendem Stromausfall bei den Menschen, die besonders vulnerabel sind und die über wenig Ressourcen verfügen, innerhalb kürzester Zeit sehr hoch sein. Da den Katastrophenschutzorganisationen keine belastbaren Daten über diesen Hilfebedarf vorliegen, ist nicht gesichert, dass die Hilfe diese Menschen erreicht. Mit der Dauer des Stromausfalls und dem Zusammenbruch der sonst so selbstverständlichen und sicheren Versorgungswege und ­möglichkeiten in nahezu allen Bereichen steigt der Hilfebedarf in der gesamten Bevölkerung – allerdings in sehr unterschiedlichem Maße. Um die Folgen des Stromausfalls so gering wie möglich zu halten oder zumindest katastrophale Zuspitzungen mit einer größeren Anzahl von schwer Erkrankten oder sogar Toten zu verhindern, erscheint es wenig sinnvoll, Hilfsgüter und ­leistungen gleichmäßig und flächendeckend zu verteilen. Eine Distribution nach dem Gießkannenprinzip könnte punktuell kritische Unterversorgungen nicht verhindern und zugleich erhielten Personengruppen oder ganze städtische Bereiche nicht die benötigten Ressourcen. Auch ist fraglich, ob die verfügbaren Ressourcen der Katastrophenschutzorganisationen für eine solche Verteilung in der Breite ausreichen würden. Auf Grund der besonderen Schwierigkeiten, die Bevölkerung ohne Strom zu informieren und mit ihr zu kommunizieren, ensteht zudem die Gefahr, dass sich bei Teilen der betroffenen Bevölkerung starke Emotionen entwickeln und dies zu einer Bedrohung der Sicherheit und Ordnung in der von Stromausfall betroffenen Region führen kann. Die Gesamtsituation verschärft sich noch dadurch, dass von dem Stromausfall auch die Kräfte der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben und die vielen Ehrenamtlichen in den Hilfsorganisationen betroffen sind, auf deren Schultern die Hilfeleistung im Katastrophenfall lastet. Das System des Katastrophenschutzes dürfte rasch an seine Grenzen stoßen und mit der komplexen und dynamischen Lage überfordert sein.

Der bisherige Ansatz, der als „topdown approach“ bezeichnet werden kann, muss durch einen „bottom­up approach“, der die Einbeziehung der Bevölkerung in das Krisen­ und Katastrophenmanagement ermöglicht, ergänzt werden.

Alternative Ansätze mit einer möglichen Vorbildfunktion für Deutschland finden sich insbesondere in den USA (National Research Council Of The National Academies 2006). Dort sind die Überlegungen dazu, wie die klassische „command and control“­Herangehensweise durch dezent­ rale Ansätze ergänzt und lokale informelle Kräfte einbezogen werden können, vergleichsweise weit vorangekommen.

Durch die Einbeziehung örtlich verankerter informeller Akteure wird, so die Annahme, eine schnelle und flexible Reaktion auf unterschiedliche und sich möglicherweise rasch zuspitzenden Hilfebedarf möglich.

„Bottom­up“­ und „top­down“­Ansätze stehen nicht in Widerspruch zueinander und es geht nicht um ein Entweder­oder. Der entscheidende Punkt ist die Integration der lokal vorhandenen materiellen und immateriellen Ressourcen in das Katastrophenmanagement.

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