Wer ist schuld? - Teil 1 - Komplexitätslücken

Eines vorweg - es gibt nicht den EINEN Schuldigen - bzw. ist diese Frage zugleich Teil des Problems. Unser gewöhnliches Entweder-oder-Denken engt den Horizont ein. Daher wurde der Titel als Provokation gewählt. Der zweite Teil des Problems ist unser einfaches Ursache-Wirkungs-Denken. Das hat im linearen/mechanistischen Zeitalter ganz gut bis sehr gut funktioniert.

Komplexe Systeme erfordern jedoch neue Betrachtungs- und Herangehensweisen - die wir uns erst aneignen müssen. Wir benötigen dazu Denken in Wirkungsgefügen bzw. vernetztes Denken. 

Im Zuge von verschiedenen Veranstaltungen wurde ich immer wieder damit konfrontiert, dass ich wohl von der Stromlobby bezahlt werde, um Angst zu machen, bzw. um die Energiewende / die Erzeugungsanlagen aus enerneuerbaren Energieträgern zu verunglimpfen.

 

Es ist mir daher wichtig, die Basis meiner Sichtweisen weiter zu  detaillieren bzw. transparent zu machen. Mit konkreten Beispielen wird dargestellt, warum der derzeit eingeschlagene Weg bei der Energiewende äußerst problematisch ist. Das bedeutet nicht, dass diese Probleme nicht lösbar sind. Sie stellen aber im derzeitigen Umsetzungsstand, besonders durch die unterschiedlichen Geschwindigkeiten bei der Umsetzung ("Komplexitätslücke"), eine sehr reale Systemgefährdung dar.

  

Daher ist es wichtig, auch den möglichen Worst-Case-Fall einer europäischen Großstörung ("Blackout") zu adressieren. Denn die damit verbundenen Auswirkungen übersteigen bei weitem unsere Vorstellungskraft.

 

Herbert Saurugg, März 2014

Steigende Turbulenzen

Durch die deutsche Energiewende befindet sich das Stromversorgungssystem in einem massiven Umbruch. Was sehr euphorisch begann, zeigt zunehmend seine Schattenseiten. Steigende Preise für Haushaltskunden und Turbulenzen bei den bisherigen Marktplayern, zunehmend regulatorische Eingriffe mit sinkender Planungs­sicherheit, volatile Strompreisentwicklungen und steigende Netzinstabilitäten sind nur einige Aspekte. Sogar Großstörungen im europäischen Verbundsystem („Blackouts“) werden durch diese Entwicklungen nicht mehr ausgeschlossen.

Keine voreiligen Schlüsse

Durch einen voreiligen Schluss könnte die dezentrale Stromerzeugung für diese Entwicklungen verantwortlich gemacht werden. Denn bisher hat die Stromversorgung sehr gut funktioniert und die mitteleuropäische Versorgungssicherheit zählt zur höchsten der Welt. Nimmt man etwas Abstand, dann fällt die Schlussfolgerung differenzierter aus. Es gibt natürlich einen Zusammenhang zwischen diesen Entwicklungen. Jedoch hat das bisherige System auch massive Schwachstellen, die bisher nur noch nie gezielt ausgenutzt wurden. Daher wäre es ein kurzsichtiger Schluss anzunehmen, dass das bisherige System wesentlich besser war und ist.

Kurzsichtige Betrachtungen

All zu häufig wird die Energiewende mit dezentralen Erzeugungsanlagen gleichgesetzt und ebenso kurzsichtig ist dabei die Vorgangsweise „produce and forget“. Ein System ist mehr als die Summe der Einzelteile. Dies gilt auch im europäischen Stromversorgungssystem. Eine Energiewende ist nicht möglich, wenn nur die Erzeugungsstruktur geändert wird. Das europä­ische Stromversorgungssystem wurde für einfache berechen- und steuerbare Großkraftwerke errichtet. Derzeit wird fast ausschließlich in dezentrale Erzeugungsanlagen investiert, die noch dazu eine sehr volatile Erzeugungskapazität aufweisen (siehe etwa Blogbeiträge 21.01.2014 und 13.02.2014).

 

Umfangreiche Anpassungen im europäischen Stromversorgungssystem sind daher unverzichtbar. Diese erfolgen derzeit, wenn überhaupt, nur äußerst zeitverzögert. So fehlen Tausende Kilometer an Stromleitungen. Ganz zu schweigen von Speichermöglichkeiten, um die Volatilität der derzeitigen Erzeugungsanlagen auszugleichen. Hier zeichnet sich in absehbarer Zeit keine vernünftige Lösung ab.

 

Tausende Kilometer neuer Stromleitungen senken nicht die Abhängigkeit und Verwundbarkeit des Gesamtsystems. Ganz zu schweigen von den Kosten und den Bürgerprotesten. Der Bau von Hunderten neuen Pumpspeicherkraftwerken ist unrealistisch und unrentable. Zusätzlich führte die langjährige Förderpolitik dazu, dass Photovoltaikanlagen betriebswirtschaftlich optimiert ausgerichtet sind und es daher um die Mittags- und Nachmittagszeit zu Spitzenproduktionen kommt, während über den restlichen Tag entsprechende Schattensysteme vorgehalten werden müssen (siehe auch Blog Elektrizitätsabgabe).

 

Der Ausgleich der aktuellen Schwankungen ist noch relativ einfach möglich, da die bisherigen Erzeugungsanlagen noch verfügbar sind. Diese werden aber aufgrund ihrer Unrentabilität stillgelegt. Was verheerende Folgen für die Versorgungssicherheit nach sich ziehen könnte. Alles Faktoren mit einer zeitverzögerten Wirkung. Wenn jedoch die Auswirkungen spürbar werden, ist es bereits zu spät.

Speicherproblematik

Um die Volatilität der Wind- und Sonnenstromproduktion ausgleichen zu können, sind unter anderem Speicher erforderlich.

 

Derzeit verfügen alle deutschen Pumpspeicherkraftwerke zusammen ein  Stromspeichervermögen von rund 40 GWh. Dabei können theoretisch 6,6 GW gleichzeitig abgerufen werden. [WikiPedia]. Pumpspeicherkraftwerke sind derzeit die effizienteste Form, um Strom "zu speichern".

 

Der deutsche Stromverbrauch liegt aktuell (März) zwischen 50-80 GW oder rund 1,5 TWh pro Tag! [Agora-Energiewende]. 

 

Damit sollte klar sein, dass diese Lücke nicht schließbar ist. An einem Tag wie dem 21. Jänner 2014 wären die Speicher schnell entleert. Und diese sind dann nicht per Knopfdruck wieder befüllt.

Nicht einmal am 13. Februar 2014 wäre es möglich gewesen, mit den vorhandenen Speicherkapazitäten das kurzfristige Fehlen von 7,5 GW abzudecken (isoliert auf Deutschland betrachtet). Im Zuge des voranschreitenden Klimawandels ist wohl häufiger mit Wetterextremen zu rechnen. Mit möglicherweise fatalen Folgen auf die Versorgungssicherheit.

Energiebedarfssenkung

Wie sich daraus leicht ableiten lässt, wird kein Weg an einer massiven Energiebedarfssenkung vorbeiführen. Und wir sprechen hier nicht von eher kosmetischen Energieeffizienzmaßnahmen. Eine Energiebedarfssenkung wäre bereits heute ohne Komfortverlust möglich. Derzeit gehen wir sehr verschwenderisch mit dieser wertvollen Ressourcen um, warum auch immer. Wir haben bereits heute das Know-how, wie wir neue Geräte wesentlich Energieeffizienter gestalten können. Wenn wir dann noch den Rebound-Effekt verhindern, könnte das relativ rasch gelingen. Daher macht ein regulatorischer Eingriff und entsprechende Vorschriften in diesem Bereich sehr viel Sinn - auch für die Energiewende. Denn jedes kW das nicht erzeugt, bzw. für das keine Infrastruktur vorgehalten werden muss, spart ein vielfaches an Ressourcen und Kosten.

Erneuerbare Energieversorgung und Sicherheit

Eine ganzheitliche und systemische Betrachtung des Themas Energieversorgungssicherheit ist daher zwingend geboten. Ein Mehrwert wird geschaffen, indem Komplexität nicht trivialisiert, sondern bewusst in Kauf genommen wird. Dies erfordert jedoch neue Lösungsansätze und auch die Inkaufnahme von möglichen Irrwegen. Eine Weiterentwicklung ist aber nur durch das Verlassen von bewährten Pfaden möglich.

 

Verschiedene Fragestellungen müssen dabei betrachtet werden. Etwa, wie ein Stromversorgungssystem auf Basis volatiler Erzeugung beschaffen sein muss, um den sehr hohen Versorgungssicherheitsstandard weiter zu gewährleisten. Dezentralität wird dabei eine wichtige Rolle spielen, jedoch nicht nur in der Erzeugung, sondern in der Gesamtstruktur. Damit kann auch insgesamt die Robustheit des Systems erhöht werden. So können auch Ausfälle in Teilsystemen leichter verkraftet werden, was auch immer die Ursache dafür sein mag, ob ein Fehler oder etwa eine Sabotage. Die Vernetzung und Analyse von bereits vorhandenem Know-how und um die Nutzung von Synergien sollte dabei im Vordergrund stehen.

Zusammenfassung

In diesem Beitrag konnte nur ein Teil der relevanten Aspekte beleuchtet werden. Die nicht unerheblichen Faktoren "Markt" oder die Marktliberalisierung ("Unbundeling") wurde hier noch gar nicht erwähnt. Auch nicht das Thema "Smart Grid". Daher, Fortsetzung folgt. Sie finden hier auch eine Zusammenfassung "Erneuerbare Energieversorgung und Sicherheit". 

 

Zusammenfassend kann daher schon einmal festgehalten werden, dass es keinen eindeutigen Schuldigen gibt. Das ist auch keinen Sinn macht, einen Sündenbock zu suchen. Vielmehr geht es darum, im Gesamtsystem eine Lösung zu finden. Die Frage lautet daher vielmehr, wie wir eine zukunftsfähige und nachhaltige Energie-/Stromversorgung erreichen können, ohne das bisherige Systen leichtfertig auf's Spiel zu setzen.

 

Es deutet vieles darauf hin, dass die derzeit eingeschlagenen Wege eher Sackgassen und Irrwege sind. Eine mögliche Ursache dafür ist wohl in der eher isolierten Betrachtung von Einzelthemen in einer hoch vernetzten Welt zu finden (vgl. Die blinden Männer und der Elefant).

 

Eine evolutionäre Energiewende ist nur mit vernetztem, systemischen Denken zu bewältigen. Denn ein System ist mehr, als die Summe der Einzelelemente. Komplexe Systeme lassen sich darüber hinaus nicht mit unseren bisherigen linearen, mechanistischen Ansätzen steuern.

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